Ziemlich zufrieden
Im Prinzip bin ich ziemlich zufrieden. So weit. Eigentlich. Während ich dem Gedanken träge nachhänge, fällt mein Blick in den Spiegel hinter der Bar. Es könnte ja auch ein Dreifachkinn sein. Die sehr adrette Tresenkraft hat verstanden und schenkt wortlos ein Weizen ein. Mit leicht angeschrägtem Kopf schaue ich der Adretten träumend in den Ausschnitt.
Das ist ein Trick, den ich vor einer halben Ewigkeit im Religionsunterricht einstudiert habe. Es muss so in der elften Klasse gewesen sein, als wir eine für mein damaliges Koordinatensystem ungemein rassige Referendarin bekamen. Bis dahin hatte ich mich weder für Jesus noch seine Mama Maria sonderlich interessiert. Mit der Neuen wurde alles anders. Um Eindruck zu schinden beschäftigte ich mich fortan mit philosophischen Schulen, Luthers Thesen und dem Alten Testament. Erfolgreich. Natürlich. Der Rest des eher kleinen Klassenkreises war, soweit ich mich erinnere, dankbar, denn ich führte die Diskussionen mit der schönen Klugen im Wesentlichen alleine, legte dabei den Kopf schief und blickte leicht entrückt auf das Ziel meiner pubertären Begierde.
Überhaupt habe ich vieles gelernt in diesen jungen Jahren, was mir später sehr von Nutzen war. Die Kumpels meines großen Bruders verblüffte ich nachhaltig durch das pfeilschnelle Austrinken ihrer Biergläser. Bis heute verschaffe ich mir in Momenten zu Ende gehender Ressourcen durch diese nie wieder verlorene Fähigkeit Vorteile im Verteilungskampf an der Kühlschranktür. Mein lieber Autorenkollege Altmann kann ein vielstrophiges Lied davon singen.
Zurück in die Gegenwart. Die gewölbte Projektionsfläche meiner sündigen Gedanken hat sich mit einem Tablett bewaffnet aus meinem Beobachtungsradius entfernt. Das gibt mir Gelegenheit, den Blick durch den halbvollen Saal schweifen zu lassen. Was ich sehe, lässt mir die Finger am Handgelenktäschchen gefrieren. Rund um den Stammtisch der unerfüllten Wünsche tobt ein erbitterter Kampf. Selbstkontrolle, Effizienz und gesellschaftliche Erwartung liegen beim Armdrücken gegen sämtliche Träume der Menschheit weit vorne. Ohne Hast trinke ich in einem Zug mein Glas leer, stanze mit den Schneidezähnen messerscharfe Zacken in den Bierfilz und trenne mit geschicktem Wurf aus dem Handgelenk die streitenden Parteien.
Am Tisch dahinter liegt die Bundeskanzlerin in einem geblümten Sommerkleid mit Spaghetti-Trägern von der Breite eines überdurchschnittlichen Autoreifens in Putins Armen. Auch diese junge Liaison durchschneidet das Wurfgeschoss wie eine im Sommerurlaub am Strand vergessene Leberwurst. Noch zufriedener, als ich es zuvor schon war, drehe ich mich zurück zur schönen Kellnerin und bestelle aufgrund meiner bedauerlichen Wasserintoleranz ein weiteres Weizen.
Während ich geduldig zuschaue, wie die Blume sich einer aufblühenden Knospe gleich über den Glasrand zu wölben anschickt, schiebt ein Ärmel mit aufgenähtem H&M-Etikett sich in mein Blickfeld. Eine mir leider nicht unbekannte, wenig angenehme Situation. Soll man den oft noch jungen Träger des Jacketts auf den Stilfehler aufmerksam machen und sich damit dem Verdacht herablassender Arroganz aussetzen? Oder den armen Menschen unbehelligt aber womöglich zum Gespött Dritter werden lassen?
Ein Blick auf die tellergroßen Augenränder verrät alles. Die fleischgewordene Erschöpfung sitzt neben mir. Ein Bürschlein von nicht mal dreißig Jahren mit ausgehendem Haupthaar und nervös zuckenden Schultern. Es ordert Red Bull und Kaffee. Zwei Mobiltelefone vibrieren unablässig vor ihm. Unmöglich, sich für eines zu entscheiden, die andere Nachricht könnte ja wichtiger sein. Motivkrawatte, Blenderuhr, Absatzschuhe. Absatzschuhe sind für Männer ein Grenzfall. Eigentlich gestehe ich Absatzschuhe nur italienischen Vorstadtfrisören zu.
„Von was träumst Du, wenn Du zur Ruhe kommst?“, frage ich meinen neuen Nachbarn, dessen Fingerkuppen eine mir unbekannte Melodie auf den Tresen hacken. Sein linkes Auge signalisiert wie durch einen sehr langen lichtlosen Tunnel völliges Unverständnis. Das rechte bewacht die beiden Telefone. Die Schultern zucken Stakkato. Ein kleiner Schwall Kaffee überwindet den Tassenrand. Die Tresenkönigin greift mit ihren langen schlanken Fingern nach einer Flasche Weizenbier. Eigentlich bin ich ziemlich zufrieden.
15. Mai 2013 um 12:31 Uhr
Oberweitenaffinität, Unverholenes Bekenntnis zum situativen Wirkungstrinken und narrativer Historismus. Diese Fähigkeiten sind schwer erkämpft worden, um das Wüten in der Welt ertragen zu können. Dem Autor sei deswegen seine Zufriedenheit aus tiefstem Herzen gegönnt.